Anregung zur Diskussion in der Zeitschrift Graswurzelrevolution 504
„Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung wechseln kann“, so der französische Künstler Francis Picabia 1916. In diesem Sinne erscheint der folgenden Artikel in der Granwurzel-Revolution 504 im November 2025.
Mich beschäftigt die Idee „Plädoyer für einen anarchistischen Umgang mit Gottheiten“ schon länger und da meine sozialen Ursprünge in der Anarchie liegen, ist mir diese Auseinandersetzung wichtig. Ich freue mich, dass diese These zuerst in der GWR erscheint. Die GWR lese ich seit den 1980er Jahren. Zuletzt politisch aktiv war ich bei Fridays-for-Future, im Klimacamp in Pödelwitz und der „Lützerath bleibt!“-Demo 2023. Seit den 1970ern bin ich umwelt-aktivistisch unterwegs. Nach meiner weltanschaulichen Ausrichtung gefragt, habe ich lange mit „Anarchist“ geantwortet. Heute würde ich meine Weltanschauung eher mit „yogisch/tantrisch“ überschreiben und gehöre damit zu denjenigen, die vom Polit-Aktivismus zur Spiritualität gewechselt sind. Aber ich denke, das eine geht nicht ohne das andere.
Ich habe mir die Frage gestellt, warum reiche und mächtige Menschen in entscheidenden Positionen immer wieder sozialökologisch so katastrophale Entscheidungen treffen? Die Verantwortlichen sind wirtschaftlich in der Regel so gut gestellt, dass sie bei einer ethischen und umweltfreundlichen Entscheidung keine persönliche materielle Not leiden würden. Manche Leute, die schon fast alles (materielle) haben, sozial kompetent, beziehungsfähig und gebildet sind, bleiben in kapitalistischen Institutionen bezüglich sozialem und ökologischem Engagement weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Warum? Ich möchte eine Antwort zur Debatte stellen, die keinen absoluten Wahrheitsanspruch hat, aber mit der manches leichter erklärt wird. Sie lautet:
„Wir sind alle polytheistisch gläubige Menschen“
Was sind überhaupt Gottheiten? Was heißt Verehren?
Bei dem Begriff „Gott“ denken viele an einen eifersüchtigen, bärtigen Mann auf der Wolke, dessen Allmachtsanspruch und Sexualmoral zu Recht von Anarchistinnen und Anarchisten abgelehnt wird. Zu Zeiten der anarchistischen Gründerväter (meist männliche Autoren) konnte Religion und christlicher Glaube gleichgesetzt werden. Im Yoga & Tantra stehen verschiedene Gottheiten für verschiedene Aspekte des Menschseins. Inspirierend ist die tantrische Flexibilität, auch neue Gottheiten zu erschaffen. In Nepal gab es angeblich auf 1,5 Millionen Einwohner*innen 2,5 Millionen registrierte Gottheiten. Als Anarchist gehe ich noch weiter und plädiere dafür, aus jedem Glaubenssatz eine Gottheit zu machen. Die meisten davon wären eher unbedeutend und viele erscheinen als Dämonen oder gefallene Engel, die aber alle himmlischen Ursprungs sind.
Weiter unten möchte ich über Glauben reflektieren, aber zunächst für die Existenz und Anerkennung des Geld-Gottes werben. Ich möchte ihn „Mammon“ nennen. Du kannst ihn auch anders nennen. In unserer Gesellschaft hat die Verehrung des Mammons religiöse Züge. Ich plädiere dafür, Kapitalismus als Religion anzusehen. Große Teile unserer Gesellschaft verehren Geld und Wachstum unverhältnismäßig. Vieles im Kapitalismus lässt sich mit Raffgier alleine nicht begründen. Manche Entscheidungen reicher und mächtiger Menschen lassen sich unter der Annahme, dass ihre Verehrung dem Geld-Gott dient, besser erklären. Unter der Annahme, dass es einen Geldgott gibt, wird verständlich, warum sie glauben, mit ihrer Geldvermehrung etwas „Gutes“ zu tun. Ein Charakteristikum von Religion ist, dass Narrative von ihren Anhänger*innen unhinterfragt geglaubt werden, auch wenn die Vernunft der meisten anderen Menschen dagegen spricht.
Wenn du mal probeweise davon ausgehst, dass es einen Pantheon gibt, im Sinne einer Ansammlung aller Gottheiten, so gehört Mammon historisch dazu. Er wurde von Moses, Jesus, Mohammed, Buddha und anderen Propheten wahrgenommen und als ziemlich antisozial dargestellt.
Die Anhängerinnen des Mammons bestreiten ihre Religiosität. Viele Wirtschaftswissen schaftlerinnen glauben, dass sie objektive Wahrheiten vertreten. Wenn wir uns bewusst werden, dass die meisten religiösen Menschen ihre eigene Gottheit als absolut richtig und objektiv vorhanden ansehen, wird auch das „normal“. Die meisten Religionen bestreiten, dass ihre Gottheit Fehler macht. Oder sie behaupten, dass alle anderen nicht göttlich sind. Es ist normal, die eigenen irrationalen Aspekte nicht zu hinterfragen. Jedes Glaubenssystem hat so seine Macken, die aus der Perspektive anderer Menschen wohlmeinend als „skurril“ wahrgenommen werden können. Beispielsweise glauben Christinnen an die „unbefleckte Empfängnis“, Muslime an „40 Jungfrauen im Paradies“, Buddhistinnen an „Wiedergeburt“, Kapitalistinnen glauben, dass sie mit dem Kauf einer Firma darin mehr zu sagen hätten, als diejenigen, die dort seit Jahren erfolgreiche Produktentwicklung machen. Anarchistinnen glauben tendenziell daran, dass Plenumsentscheidungen im Konsens besser sind als Entscheidungen einsamer alter weißer Männer. Und ich als Tantriker glaube, dass guter Sex friedlich macht. Mit all solchen „interessanten“ Glaubenssätzen können wir in einer pluralistischen Kultur gut leben.
Anstatt die „Andersgläubigen“ in die „Hölle“ zu jagen und mit der Härte vergangener monotheistischer Religionskriege zu bekämpfen, plädiere ich dafür, uns alle als polytheistisch zu begreifen. Die Verehrung des Geld-Gottes können wir dann in Relation zur Verehrung anderer Gottheiten setzen. Gottheiten können auch Mitgefühl oder Umweltschutz oder Fußball heißen.
In einem polytheistischen Glaubenssystem können wir mit Widersprüchlichkeiten leichter leben. Wenn mir klar ist, dass meine Lieblings-Gottheit nicht die einzige ist, und meine Nachbarn mit ihren anderen Gottheiten freundliche Menschen sind, kommen wir einem pluralistischen Weltbild und einer friedlichen Gesellschaft näher. In meiner langen Auseinandersetzung mit Gesellschaft und Religion plädiere ich dafür, anzunehmen, dass wir alle polytheistisch Gläubige sind. Das ist im anarchistischen Kontext eine steile These, aber ich bitte darum, den Gedanken weiter durchzuspielen. Als Anarchist habe ich traditionell einen relativ respektlosen Umgang mit Autoritäten. Die alten Gottheiten streiten und menscheln nicht nur in der indischen Mythologie, sondern auch im alten europäischen Kulturkreis. Wenn ich mir die Erzählungen verschiedener Religionen anschaue, dann sind die Götter oft ein ziemlicher Sauhaufen. Vom alttestamentarisch strafenden Gott über die germanischen, griechischen und römischen Sagen bis zu den tantrischen Gottheiten im Hinduismus, vom Töten eigener Kinder bis zu wildem sexuellem Durcheinander. Aber das ist nur ein Blickwinkel aus religionskritischer Sicht. Praktisch bieten Gottheiten und die ihnen zugeschriebenen Texte vielen Menschen Orientierung, um gut durch ihr Leben zu kommen. Dies können wir uns auch als Anarchist*innen zu nutze machen.
Die meisten Menschen halten gerne an eigenen Glaubenssätzen fest und verteidigen sie gegen Angriffe. Aus psychotherapeutischer Sicht sind die Übergänge zu neurotischem Verhalten fließend. Spirituell nennen wir es Anhaftungen. Eine Reflexion, wie und an was wir glauben und welche Schlussfolgerungen wir daraus ziehen, ist emotional anspruchsvoll. In einer aufgeklärten pluralistischen Weltanschauung können wir die Identifikation mit unseren Glaubenssätzen oder Gottheiten relativieren. Wir könnten bei schwierigen Entscheidungen z.B. eine vorgestellte Debatte zwischen verschiedenen Gottheiten führen und dann die Gottheit mit den schlechteren Argumenten auf unserem persönlichen Altar etwas zur Seite schieben, ohne ihn gänzlich zu diskreditieren. Dagegen macht das SchwarzWeiß-Denken einer monotheistischen Weltsicht unsere Handlungsspielräume enger. Die Alternative, Religion grundsätzlich abzulehnen, wie es die anarchistischen Vordenkerinnen in Abgrenzung zur Kirche taten und es viele Anarchistinnen auch heute tun, führt in meiner Wahrnehmung heute dazu, dass Anarchismus „verkopft“ wirkt. Die spirituelle bzw. transzendente Dimension fehlt. Die Einordnung in etwas Größeres ist schwer greifbar. Emotional fühlende Menschen erreichen wir schlechter. In meiner Vision einer herrschaftsfreien Gesellschaft gibt es viele Weltanschauungsgemeinschaften, die die Bedürfnisse ihrer Anhängerinnen nach Identifikation befriedigen. Identifikation, also Zugehörigkeit zu einer Gruppe, ist ein elementares menschliches Bedürfnis. Die Vertretungen der verschiedenen Gemeinschaften (Geistliche, Vorsitzende, Vordenkende, …) müssen sich der Pluralität der Verehrungssubjekte bewusst sein und in ihrer herausgehobenen Stellung in der Gesellschaft für Integration sorgen. Die monotheistischen Religionsgemeinschaften müssen dafür etwas vom Allmachtsanspruch ihrer Gottheiten abgeben, was seit Jahrhunderten in vielen Gesellschaften der Welt gut klappt (mit vielen Ausnahmen). Die Priester des Kapitalismus müssen sich des religiösen Charakters ihrer Weltanschauung bewusst werden. Wir können das Zugeständnis machen, dass „die Anderen“ andere Gottheiten als „wir“ weiter vorn auf ihrem Altar haben, aber wir alle Teil einer gemeinsamen Gesellschaft sind. Ein spirituelles Ziel aller Religion ist die „Einheitserfahrung“. Im Yoga wird das Selbstverwirklichung genannt. Der Begriff Selbstverwirklichung bedeutet im Yoga/Tantra die „Einheit mit dem Göttlichen“, also für Yogis die Erleuchtung, für Abenteurer besondere Erlebnisse, für Christinnen der Einzug ins Paradies, für Kapitalist*innen das Schwimmen in Geld.
Jede Weltanschauung empfiehlt unterschiedliche Methoden der spirituellen Praxis: Gebet, Meditation, Gesang, Nächstenliebe, soziales Engagement, Konsum, Verehrung von Fußballern oder Popstars usw. Eine große Gemeinsamkeit aller Religionen ist Verehrungspraxis. Wie die Verehrung aussieht ist unterschiedlich, aber sie macht friedlich.
Aus polit-aktivistischer Sicht packt mich oft die Wut angesichts antisozialer oder umweltschädlicher Entscheidungen. Aggression oder Ohnmachtsgefühle sind meine Reaktion, die aber an den bestehenden Machtstrukturen nur wenig ändern. Für mein emotionales Gleichgewicht treffe ich Gleichgesinnte, fühle Respekt und Annahme, debattiere und versuche meinen CO2-Fußabdruck möglichst klein zu halten. Ich versuche trotz meiner radikalen, an die „Graswurzel“ gehenden Meinungen, ein gutes und sozialverträgliches Leben zu gestalten, neben all den anderen Menschen, die mit ihren anderen Weltanschauungen ebenso ein gutes, sozialverträgliches Leben zu gestalten versuchen. Eine wichtige Herausforderung stellen unsere Anhaftungen und Identifikation des Egos dar.
Die Identifikation mit Glaubenssätzen charakterisiert religiöse Eiferer. Damit haben wir in jeder Gesellschaft Probleme. Aktuell in Zeiten des Klimawandels zum Beispiel mit den dogmatischen Anhänger*innen des Mammon.
Anstatt eine Weltanschauung komplett zu übernehmen oder komplett abzulehnen, erlaube ich mir ganz anarchistisch und antiautoritär eine Kritik und Meinungen zu Details der verschiedenen Gottheiten, in der Annahme, dass wir alle „im gleichen Boot sitzen“ (auf der gleichen Erde). Ich plädiere dafür, miteinander zu sprechen, auch wenn es mich stark fordert, hinter Vertreter*innen krasser Standpunkte fühlende Menschen zu sehen. Die Idee des Polytheismus hilft mir dabei.
Zur Vertiefung, wofür ein flexibles Gottheitenbild noch sinnvoll ist, habe ich einen weitern Artikel geschrieben. Siehe
https://www.tantrazentrum-leipzig.de/2025/11/28/gemeinschaft-und-ein-anarchistischer-umgang-mit-gottheiten/